Die ERDSCHIFF Pioniere

REIFENWERK STATT MAUERWERK Hier entsteht das Zentrum des Erdschiffs. Ein großer Raum für Tagungen und Workshops.

Aus alten Autoreifen, Glas und Erde bauen Pavel und seine Freunde mitten in Prag das ultimative Ökohaus – es funktioniert ohne Wasser und Stromanschluss. Dafür mit Solarenergie, einem raffinierten Gewächshaus und einer Kläranlage auf Pflanzenbasis.

TEXT: Nancy Waldmann, FOTOS: Slavko Eichler

Prag, 2014. Pavel ist den anderen immer einen Schritt vo­raus. Manchmal auch zwei. »Es dürfen keine Klümpchen drin sein!«, brüllt er Petr und Martin zu. Der Betonmischer ist unglaublich laut. »Den Zement müsst ihr mit dem Spaten abstechen, danach den Sand dazu. Vermischt es sich?« – »Keine große Kunst«, murmelt Martin. Die graue Pampe sieht sehr flüssig aus. Absicht, denn damit soll ein fehlender halber Zentimeter Höhe einer Mauer ausgeglichen werden – eine Mauer aus erdbefüllten Autoreifen. Als Mörtel dient Lehm. Oben schließt eine Schicht leerer Blechdosen und Beton ab.

Pavel guckt sich die Wand durch ein kleines Gerät auf einem Stativ an, mit Hornbrille auf der Stirn und Stoppelbart sieht er aus wie ein Landvermesser am Straßenrand. »Zehn Komma vier«, sagt er. »Elf«, ruft ihm František zu, der mit einer Wasserwaage auf der Autoreifen-Mauer steht. »Also ein halber Zentimeter«, sagt Pavel zu Petr und Martin. Die Mauern sind Teil des zukünftigen Gewächshauses und der Kompostanlage.

BESUCH AUF DER BAUSTELLE Pavel, ein ehemaliger Jurist, bekommt viel Besuch auf der Baustelle. Er erklärt jedem, der es wissen will, wie das Erdschiff später einmal funktioniert.

Pavel und seine Helfer leisten an diesem kalten sonnigen Samstag im Spätherbst Pionierarbeit. In einer Prager Schrebergartensiedlung, kaum 15 Minuten vom Stadtzentrum entfernt und mitten in einer Siedlung neuer Mehrfamilienhäuser entsteht eines der ersten autarken Häuser in Europa – ein Haus aus Müll. Ein »Erdschiff«, wie die Eingeweihten sagen. Schiff statt Haus – schon der Name soll deutlich ­machen, wie verschieden Erdheim und konventionell gebaute Häuser sind.
Es war die Idee des amerikanischen Architekten Mike Reynolds, Häuser aus organischen und möglichst vor Ort verfügbaren Materialien zu bauen: Erde, Glas und eben Müll. Ein Haus, das nicht auf die Infrastruktur für Strom, Wasser und Abwasser angewiesen ist. Es hat einen in sich geschlossenen Energie- und Wasserkreislauf, und das Wasser reicht darüber hinaus noch für die Pflanzenzucht im Garten. Reynolds nannte diese Häuser »earthships«.

Das Erdschiff hat einen ausgeklügelten Wasserkreislauf: Insgesamt viermal wird das Wasser genutzt. Zuerst zum Waschen und Duschen, dann ­filtern die Pflanzenwurzeln des hausinternen botanischen Gartens das Wasser und werden damit gleichzeitig gewässert. Das Grauwasser, also jenes gering verschmutzte Wasser, das beim Duschen oder ­Waschen anfällt, geht in die Toilettenspülung und schließlich in eine Pflanzenkläranlage im Freien. Ein raffiniertes ökologisches Mini-System!
Der Strom kommt aus einer Solarzelle. Aber Pavels besonderer Stolz ist das aquaponische System im Gewächshaus. Ein Verfahren, das Fisch- und Pflanzenzucht vereint. Oder wie Pavel es formuliert: »Unten ist ein Aquarium mit Fischen, und oben wachsen Pflanzen, die sich von der Fischkacke ernähren.« Noch braucht es dafür einiges an Vorstellungskraft – Pavel steht zwischen zwei Reifenwänden im Matsch und deutet eine Ebene an. Hier sollen zukünftige ­Bewohner einmal Tomaten züchten.
Trotz aller Finessen ist ein Erdschiff aber vor ­allem ein Haus, das sich Laien mit ein wenig Anleitung selbst bauen können. Petr und Martin sind ­Anfang 20 und studieren Geologie. Auf das Projekt sind sie im Internet gestoßen. Sie helfen, weil sie ­wissen wollen, wie es geht. »So habe ich es auch ­gemacht«, sagt Pavel.

Er ist eigentlich Jurist und hat früher in einer Softwarefirma gearbeitet. Irgendwann warf er den Job hin und ging für drei Jahre auf Reisen. Als er zurückkam, hatte er einen Plan im Gepäck: Erdschiffe zu bauen. Pavel hatte den Dokumentarfilm »Garbage Warrior« über Reynolds gesehen. In Prag traf er ein Trio aus Gleichgesinnten. Hynek hatte das Geld und pachtete das Gartengrundstück; die anderen beiden, Michaela und Honza, hatten das Know-how. Sie ­waren ein halbes Jahr in den USA bei Reynolds in die Lehre gegangen. Gerade hatte das Paar begonnen zu bauen, als Pavel hinzukam.

Das Konzept für die Erdschiffe entwarf Reynolds bereits in den 70er-Jahren. Seitdem reist er um die Welt und erklärt anderen, wie man mit geringen Mitteln Häuser selbst bauen kann. Besonders in Slums und Katastrophengebieten haben sich seine Erdschiffe bewährt, wie etwa 2005 an der amerikanischen Küste nach dem Hurrikan Katrina. In Europa ist dieses Prinzip noch weitgehend unbekannt. Die größte Herausforderung hierzulande sind die bürokratischen Hürden: Keine bestehende Bauvorschrift kennt diese extravaganten Baustoffe. Da wird es schwer mit Genehmigungen.

In Tschechien ist Pavels Erdschiff schon das zweite seiner Art – eins steht bereits als Privathaus in einem Dorf in Mittelböhmen. Offiziell ist es als Landwirtschaftsgebäude registriert, aber die beiden Bauleute wohnen dort. Es besteht aus zwei igluartigen Räumen mit schummrigem Licht, einem hellen Korridor, der als botanischer Garten dient, außerdem hat das Haus Toilette, Dusche und ein Dach mit einer waschbeckenartigen Kuppel aus Beton, die das Regenwasser sammelt. Sein Erdschiff soll anders werden. »Wir zeigen, dass man auch in einer Großstadt autark und naturnah leben kann.«

Er klettert über eine Treppe aus alten Autoreifen nach oben zur Holzbank. Von dort hat er den Ausblick auf die Stadt. Die Baustelle ist eng. Wegen der Hanglage müssen Pavel und seine Jungs über einen schmalen Pfad vorbei an den anderen Gärten alles selbst herantragen. Zum Beispiel die alten Reifen, die sie von einer Autowerkstatt umsonst bekamen. Zum Glück gibt es genug freiwillige Helfer. Pavel blickt hinunter. Vor ihm liegt die Arbeit von sieben Monaten. Fast jeden Tag hat er seitdem auf der Baustelle verbracht. Zwischen Wassercontainern und Werkzeug sind deutlich die geschwungenen fast drei Meter hohen Grundmauern zu sehen, die das Haus zum Hang hin isolieren und sich nach Süden breit öffnen. Dorthin kommt die Fensterfront. »Wir haben 45 Prozent Gefälle, außerdem nehmen die umliegenden Häuser Sonne weg. Deswegen brauchen wir als Heizung die Kompostanlage.« Tibetische und tschechische Fahnen flattern am Hang. Bevor er sich auf die Bank setzt, pflückt er sich eine Blüte der ­Kapuzinerkresse und steckt sie sich in den Mund.

Pavel und seine Truppe bauen nicht nur ein unkonventionelles Haus, sie machen es auch auf unkonventionelle Weise: »Wir haben für das alles keine Genehmigung.« Der Ärger war einkalkuliert. Pavel nickt grinsend in Richtung Balkon des Neubaus
gegenüber. Vermutlich war es der Nachbar, der bei den Behörden angerufen hat. Denn dem fehlt jetzt der freie Ausblick ins Grüne, stattdessen schaut er auf eine chaotische Baustelle. Man hätte vorher mit den Anwohnern reden sollen, findet Pavel. Bereits drei Tage nach Baubeginn war die Polizei da.

Die »Bau-Guerilla« hatte sich bewusst gegen mühevolle Baugenehmigungsanträge entschieden. Pavel ist sicher, aus dem Projekt wäre nie etwas geworden, hätten sie den offiziellen Weg beschritten. Jahre hätte das gedauert. Er gibt sich gelassen. Bekannte tschechisch Künstler und Popstars unter-stützen das Projekt. Seine Strategie nennt Pavel die der vollendeten Tatsachen. »Hier wurde noch nie ein illegales Haus abgerissen«, sagt er. Im tschechischen System ließe sich jede Regelung irgendwo umgehen. In Deutschland wäre das schon schwieriger, glaubt er.

Doch auch tschechische Behörden können stur sein. Das Erdschiff steckt nun doch in einem Genehmigungsverfahren. Im Raumbewirtschaftungsplan steht: Auf dem Grundstück darf offiziell nur ein Tierfriedhof oder ein Gebetshaus gebaut werden. Also will das Team sein Ökohaus als »überdachten Garten mit Gebetsort« registrieren lassen.

Das fertige Erdschiff soll auch nach Bauende ein Lernort bleiben. Kein klassisches Wohnhaus, sondern ein Zentrum für Treffen, Seminare und Weiterbildung. Ein Ort, an dem Interessierte das Leben in einem Erdschiff ausprobieren können und lernen, es zu bauen. Ein Demo-Haus mit einem Raum, in dem 15 Personen Platz haben. »Damit die Leute nicht mehr nach Amerika zu Mike Reynolds fahren müssen«, schmunzelt Pavel. Noch in diesen Monaten soll das Dach fertig werden. Ein grünes Dach auf Holzbasis, nicht aus Beton. Darin steckt ein Stück von Pavels Traum, den er von seiner Reise mitgebracht hat: der Traum von einem Leben im Dschungel.

Dieser Artikel ist im HANDMADE Kultur Magazin 1/2014 erschienen.

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